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Weißt du noch?

 

 

Weißt du noch. Übers Wochenende nach Hause fahren. Oder an Weihnachten. Im Kofferraum die Mitbringsel für Oma, Eltern, Tanten.

An der Tür klingeln, hallo altes Haus und sag mal, warst du nicht früher viel größer?

Im alten Kinderzimmer übernachten, die Dachschräge rückt dir auf die Pelle, du passt nicht mehr hinein, bist rausgewachsen.

Zuhause ist jetzt anderswo. Du bist eine Weile durch die Gegend geweht, hast am Meer fest gemacht, Wurzeln geschlagen.

 

Das Haus der Kindertage, längst abgerissen.

Nicht mehr zu retten, seine Wände sind morsch und das Dach undicht vom wilden Wein, den niemand je gezähmt hat.

Mit seinen winzigen Saugnäpfen ist er am Mauerwerk empor geklettert, hat seine geschmeidigen Ranken überall hinein geschoben und dabei Mörtel gesprengt und Dachpfannen zerlegt. 

 

Als die Bagger kommen und an den Wänden nagen, kann man in unsere Zimmer hineinsehen wie in ein Puppenhaus.

Längst haben andere Menschen hier gelebt, haben ihre eigenen Geschichten ins Mauerwerk geflüstert und unsere damit überschrieben. 

Doch sie sind immer noch da, unsere Geschichten, sie stecken unter den abgerissenen Tapeten, hocken auf den schmalen Treppenstufen (es waren achtzehn) und schweben durch die leeren Zimmer.

Weißt du noch, flüstern sie mir zu, als du dir das Zimmer mit dem kleinen Bruder geteilt hast und den roten Kassettenrecorder.

Als du im Kirschbaum gesessen hast, an einem Seil den Henkelkorb, mit dem du dir deinen geheimen Proviant in die Blätterkrone hinauf gezogen hast.

Hörst du sie noch, die Geschichten an der Bettkante, unersättlich warst Du. Noch eine, bitte bitte, noch eine.

Und erinnerst du dich an das Gute-Nacht-Gebet, ein Engel kam darin vor, der Rest ist vergessen.

Du konntest nie schlafen in völliger Dunkelheit, die Rolläden mussten immer einen Spalt Licht durchlassen. Jetzt hängen sie abgerissen neben den Fenstern, aus denen niemand mehr nach draussen schaut.

 

Die Geschichten werden leiser, der Wind trägt sie auf und davon, spielt mit ihnen wie mit Omas Tischdecken, die im Garten hinter dem Haus an der Wäschespinne flatterten.

Ich stehe noch eine Weile an der Straße und sehe dabei zu, wie riesige Kiefer aus Stahl große Löcher in den Dachstuhl beißen.

Es knirscht und kreischt und staubt, der Schuttberg wächst und das Haus wird immer kleiner, es verwandelt sich vor meinen Augen in Vergangenheit.

Weißt du noch, frag ich den Wind, aber er hört mich nicht mehr. Muss weiter, wispert er und pfeift ein leises Abschiedslied.

 

Danke altes Haus, sag ich und mache mich auf den Heimweg.

 

...

 

Und so sitze ich wieder in meiner Werkstatt und zeichne und baue kleine Häuser. Windschief und bis unters Dach vollgestopft mit Erinnerungen und Geschichten die durch meine Hände fließen, während ich säge, schmiede und löte. 

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Sr. Lobo (Donnerstag, 06 Juni 2024 18:37)

    Sehr schön geschrieben, liebe Meike. :)

    https://m.youtube.com/watch?v=zNrygLmvCwY&pp=ygUUYmx1bWZlbGQgcHJvIGZhbWlsaWE%3D

  • #2

    Anne (Donnerstag, 06 Juni 2024 21:32)

    Wieder lieben Dank für die schönen Worte, die das Heimweh nach der Kindheit und die Sehnsucht nach einem Zuhause in der Welt so schön beschreiben.