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Gott im Kasten?

 

„Was ist das eigentlich für ein Kasten da in der Altar-Rückwand?“ fragte ich beim Mittagessen in die Runde, als ich vor etlichen Jahren zum ersten Mal in einem Kloster zu Gast war und den Gottesdienst in der kleinen Klosterkirche besucht habe.

Um mich herum betretenes Schweigen, hier und da eine belustigt angehobene Augenbraue.

„Das ist der Tabernakel“ erbarmte sich jemand zu erklären. „Dort wird das Allerheiligste aufbewahrt“.

Um mich nicht weiter mit meiner Ahnungslosigkeit zu blamieren bedankte ich mich höflich, tauchte in meinen Nachtisch ab und verordnete mir selbst Nachhilfe.

 

Jahre später, ich habe meine Hausaufgaben gemacht und weiß inzwischen, was es mit dem kleinen Kasten und dem Vorhang darin auf sich hat.

Der Tabernakel, von lat. tabernaculum = Zelt, spielt auf die Vorstellung aus dem sog. Alten oder Ersten Testament an, nach der Gott in einem Zelt mit seinem Volk in der Wüste unterwegs war. 

Gott, ein echter Wandervogel. Gefällt mir.

Im mobilen Zeltheiligtum und auch später im Jerusalemer Tempel schirmte ein kunstvoll gefertigter Vorhang den Bereich ab, der Gott und damit dem Allerheiligsten vorbehalten war. Heute werden in den Synagogen die kostbaren Tora-Rollen hinter einem Vorhang aufbewahrt, der an den Tempelvorhang erinnern soll. 

 

Auch im Tabernakel in der Kirche gibt es einen kleinen Vorhang, hinter dem die vergoldeten Gefäße mit den Hostien verborgen sind.

 

Der Vorhang im Tabernakel ist in der Mitte geteilt, und auch das ist kein Zufall, sondern eine Anspielung auf den Vorhang im Tempel.

Im neuen Testament wird erzählt:  In der Stunde, als Jesus am Kreuz starb, riss, begleitet von Donnergrollen und Erdbeben, der Vorhang im Tempel entzwei.

In einer jüdischen Interpretation* lese ich, dass Gott vor Trauer über den Tod seines Sohnes sein Kleid zerrissen hat. 

Der Tempelvorhang, Gottes Trauergewand. Zum weinen schön.

 

Einmal im Jahr an Karfreitag stehen in katholischen Kirchen die Türen des Tabernakels weit offen, der kleine Schrein ist leer geräumt.

Kein Gold, kein Brot. 

An Karfreitag ist Gott tot. 

Dröhnende Stille. Abwesenheit, die in den Händen und im Herzen schwer wird wie Blei. 

 

Komischerweise mag ich den Karfreitag. Vielleicht ist er sogar mein liebster Feiertag. 

Alle Jahre wieder sitze ich vor dem offenen Tabernakel, der kleine Vorhang ist zur Seite geschoben. 

Ich schaue in den leeren Kasten und fange an, ihn ganz vorsichtig zu füllen. 

Mit Möglichkeiten, mit Fragen, mit Vermissen, mit Neuanfängen.

 

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"Das Neue Testament, jüdisch erklärt." Deutsche Bibelgesellschaft

 

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In der christlichen Tradition wird zum zerrissenen Tempelvorhang u.a. überliefert, dass ab diesem Zeitpunkt für alle Menschen der Weg zur Begegnung mit Gott frei war, der bis dahin allein dem Hohepriester am Versöhnungsfest offen stand. Dabei wird ausgeblendet, dass die Schriften des Alten Testaments voll sind mit Geschichten von Menschen, die Gott in ihrem Alltag begegnet sind, die mit ihm gestritten, verhandelt, sogar gelacht und gescherzt haben. 

 

Das Christentum, das ohne Jesus, den Juden, nicht denkbar ist, hat über die Jahrhunderte unzählige jüdische Symbole und Handlungen neu interpretiert und umgedeutet, sehr oft leider auch mit scharfer antijüdischer Haltung und sogar gewaltvoller Abgrenzung.

 

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